„Nicht zulassen, dass die Situation weiter kippt“

Berlin, 11. April 2024 – Ältere, Frauen, Zuwandernde – diese drei Zielgruppen braucht die Wirtschaft mehr denn je, wenn sie den demografischen Wandel und den Fachkräftemangel auffangen will. Können Wirtschaft und Politik sie jetzt nicht durch attraktive und wertschätzende Konzepte gewinnen und halten, verschärft sich der Mangel weiter.

Die Babyboomer lassen es krachen … In diesem Jahr feiert der mit knapp 1,4 Millionen Babys geburtenstärkste Jahrgang, den es in der Bundesrepublik je gab, seinen 60-zigsten Geburtstag. „Der runde Geburtstag des Jahrgangs 1964, die Tatsache, dass in Kürze allein mit ihm mehr als eine Million Menschen fast gleichzeitig aus dem Arbeitsleben ausscheiden, führt uns die Gefahren des demografischen Wandels und Fachkräftemangels erneut und klarer, denn je vor Augen: Der Fachkräftemangel blockiert die Wirtschaft – Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand stehen auf dem Spiel“, betont Martina Schmeink, Geschäftsführerin von Das Demographie Netzwerk e.V. (ddn) in Berlin. Dabei geht es nicht nur um die Boomer. „Den Kampf gegen den Fachkräftemangel entscheiden drei Gruppen gemeinsam: Ältere, Frauen und Zuwandernde. Bei allen drei Gruppen stehen wir jedoch aktuell an einem kritischen Punkt. Neben dem baldigen Renteneintritt der Boomer sind es bei den Frauen diverse Gender Gaps, bei den Zuwandernden die Anti-Migrationsstimmung. Wir müssen konsequent und schnell darauf antworten. Sonst kippt die Situation weiter und der Mangel verschärft sich noch einmal deutlich. Die Wirtschaft hat vieles selbst in der Hand, kennt die Konzepte.“ Sie betont: „Was dabei zugleich nicht geschehen darf: dass die Zielgruppen sich als Reserve oder Notlösung fühlen. Sie helfen uns mit Zeit, Kompetenz und Einsatz. Dafür müssen wir ihnen echte Perspektiven und vor allem und immer wieder Wertschätzung geben.“

Zielgruppe Ältere: Es sind nicht nur die Babyboomer, die das Rententhema besetzen. Die aktuelle ddn-Studie vom Oktober 2023 zeigt, dass eine deutliche Mehrheit aller Erwerbstätigen sich eine frühere Rente ab spätestens 63 wünscht. Dieselbe ddn-Studie hat aber auch ergeben, dass ältere Menschen dann bereit sind, länger zu arbeiten, wenn die Bedingungen stimmen: wenn sie unter anderem eine flexiblere Gestaltung von Arbeitszeiten und Arbeitspensum, mehr Qualifizierung – und auch mehr Wertschätzung erhalten. Wenn Betriebe diesen Wünschen verstärkt nachkommen, lasse sich der drohende Kipppunkt aufhalten, bleiben Ältere länger an Bord, ist ddn-Expertin Schmeink überzeugt. Sie verweist zudem auf Vorschläge der Fachautorin Margaret Heckel, die auch Jurymitglied für den von ddn vergebenen Deutschen Demografie Preis ist. „Wenn Arbeitgeber den Älteren zum Renteneintritt erlauben, Luft zu holen, ein paar Wochen oder Monate Pause einzulegen, kommen sehr viele danach wieder zurück und bleiben“, ist Heckel sicher. „Insbesondere, wenn sie zudem den Fokus ändern, etwas Neues lernen, die Stelle wechseln, autonomer und flexibler arbeiten dürfen“, knüpft sie an die ddn-Studie an.

Zielgruppe Frauen: Der Knackpunkt ist und bleibt hier der hohe Teilzeitanteil. Laut Destatis arbeitet immer noch knapp jede zweite Frau in Teilzeit. Das liegt nicht zuletzt am Gender Care Gap: Nach aktuellen Angaben des Bundesfamilienministeriums wenden Frauen pro Tag im Durchschnitt 44,3 Prozent mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit, für Kindererziehung, Pflege von Angehörigen, Hausarbeit, Ehrenamt auf als Männer. Nun kommt der massive Fachkräftemangel in Kitas und Schulen hinzu. „Das wird die Teilzeitquote der Frauen verstetigen, vielleicht noch weiter steigern“, fürchtet Schmeink. Neben dem Gender Care Gap bleibt auch der Gender Pay Gap deutlich: Unbereinigt verdienen Frauen immer noch durchschnittlich 18 Prozent pro Stunde weniger als Männer. Und nicht zuletzt waren laut Destatis lediglich 28,9 Prozent der Führungs­positionen von Frauen besetzt. Im Vergleich zu den anderen EU-Mitglied­staaten lag Deutschland damit nur im unteren Drittel. „Die Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit von Frauen ist wesentlich, um den Fachkräftemangel zu bekämpfen“, betont Schmeink. „Um das zu erreichen, müssen wir Rollenbilder und betriebliche Strukturen weiter aufbrechen: durch mehr familien- und väterfreundliche Strukturen, innovative betriebliche Kinderbetreuung, faire Löhne und gute Karrierechancen. Dann können Frauen ihre Arbeitszeit nicht nur praktisch leichter aufstocken, sie erfahren vollwertige Anerkennung, es ist deutlich attraktiver, mehr zu arbeiten.“

Zielgruppe Zuwandernde (siehe auch ddn-Pressemitteilung vom 7.3.2024): „Wir brauchen endlich deutlich mehr Zuwanderung. Eine Netto-Zuwanderung von mindestens 400.000 bis 500.000 Fach- und Arbeitskräften pro Jahr ist unabdingbar“, sagt Schmeink. Zugleich aber wachsen Rassismus und Antisemitismus, wendet sich die Stimmung nach rechts und gegen Migration. „Das wird immer mehr Menschen abhalten zuzuwandern oder hier lebende MigrantInnen dazu bringen, wieder abzuwandern – auch hier droht ein Kipppunkt und damit eine Situation, die wir uns menschlich wie wirtschaftlich nicht leisten sollten“, so die ddn-Expertin. „Migration ist ein Weg, den wir forcieren müssen. Nicht das Problem.“ Konzepte gäbe es auch hier genug: das Fachkräfteeinwanderungsgesetz weiter vereinfachen, den Job-Turbo der Bundesarbeitsagentur für Geflüchtete intensiver nutzen, vor allem aber eine echte Willkommenskultur aufbauen. „Menschen wandern zu, wenn sie sich geschätzt fühlen, Freunde finden, Unterstützung und Chancen sehen. Wirtschaft und Zivilgesellschaft haben begonnen, sich pro Zuwanderung zu positionieren. Diese Haltung muss sich weiter vervielfachen und gelebt werden.“

Schmeink fasst zusammen: „Um den Fachkräftemangel zu mildern, demografiefest zu werden, braucht es Ältere, Frauen, Zuwandernde. Wir wissen, was zu tun ist, müssen handeln, klare Haltung und ehrliche Wertschätzung zeigen. “

Über Das Demographie Netzwerk e.V. (ddn): Das Demographie Netzwerk e. V. (ddn) ist ein gemeinnütziges Netzwerk von Unternehmen und Institutionen, die den demographischen Wandel als Chance begreifen und aktiv gestalten wollen. ddn wurde 2006 auf Initiative des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales und im Kontext der Initiative neue Qualität der Arbeit (INQA) gegründet. Die Mitglieder engagieren sich mit dem Anspruch „gemeinsam Wirken“ und in kollaborativer Zusammenarbeit. In regionalen und überregionalen Foren, in digitalen und persönlichen Treffen bearbeitet das Netzwerk Themen wie Qualifizierung, Digitalisierung, Führung und Diversity. ddn initiiert, leitet und unterstützt Förder- und Forschungsprojekte zu seinen Themen. Seit 2020 verleiht ddn den Deutschen Demografie Preis ddp.

      

Pressekontakt: Andreas Scheuermann, Tel.: 0611-1666-1424, Mail: redaktion@auctority.ne

Profil Martina Schmeink
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