Mehrheit der Beschäftigten sieht kaum Perspektiven im Job

Fachkräftemangel und demografischer Wandel gefährden schon heute die Produktivität der deutschen Wirtschaft. Für die Zukunft zeichnet sich ein weiterer bedrohlicher Aspekt ab: Ein Großteil der abhängig Beschäftigten in Deutschland sieht im Beruf nur wenig Perspektiven.

Existenzsicherung mit weitem Abstand wichtigstes Motiv für Berufstätigkeit, gefolgt von dem Ausüben einer sinnvollen Tätigkeit und Kontakt zu anderen Menschen

54,2 % wollen mit 62 Jahren oder früher in Rente gehen

Fast die Hälfte prognostiziert für sich unzureichende Alterssicherung

49,5 % der Erwerbstätigen sehen wenige Möglichkeiten für sich

Die Ergebnisse einer aktuellen Umfrage des Marktforschungsinstituts Civey im Auftrag des Demographie Netzwerks e.V. (ddn) zeigen, dass Arbeit hauptsächlich als Existenzsicherung empfunden wird und die Mehrheit der Beschäftigten sich einen frühen Renteneintritt wünscht. Und das, obwohl fast die Hälfte der Erwerbstätigen mit einer schlechten Absicherung im Ruhestand rechnet. Die Ergebnisse der Studie bewerten Niels Reith vom Vorstand des Demographie Netzwerks ddn sowie Prof. Dr. Ulrike Fasbender von der Universität Hohenheim, die die Studie fachlich begleitet hat.

Perspektiven im Beruf

Im Mittelpunkt der Umfrage standen die Perspektiven der Arbeitswelt. Die Teilnehmenden wurden gefragt, inwieweit sie der Aussage zustimmten, „In meiner beruflichen Zukunft erwarten mich noch viele Möglichkeiten“. Dabei zeigt sich, dass 49,5 % der Befragten dieser Aussage nicht zustimmen konnten. Insbesondere bei den älteren Jahrgängen jenseits des 50. Lebensjahrs schwinden die Perspektiven. 62,1 % in der Gruppe 50 bis 64 Jahre und 63,5 % in der Gruppe über 65 Jahre, die noch erwerbstätig ist, sehen wenige Möglichkeiten für sich. Erschreckend hoch erscheint dieser Wert auch in der jungen Altersgruppe von 18 bis 29 Jahre. 34,4 % und damit mehr als ein Drittel der jungen Menschen im Berufseinstieg sehen für sich nicht viele Möglichkeiten, obwohl der Großteil des Arbeitslebens noch vor ihnen liegt. Und selbst bei den in Ausbildung befindlichen jungen Menschen rechnen bereits 20,5 % nur mit wenigen Möglichkeiten in ihrem Berufsleben. Neben den Altersunterschieden bei dieser Frage lassen sich auch substantielle Geschlechts- und soziale Unterschiede feststellen. Frauen erwarten mit 58,2 % gegenüber 41,1 % der Männer nicht mehr viele Möglichkeiten für sich, und fast zwei Drittel der Arbeiter (65,1%) teilen den Pessimismus.

„Die Studie zeigt, dass die Unternehmen und Betriebe in Deutschland die Perspektiven der Beschäftigten im Blick behalten müssen. Arbeit erfüllt für viele Beschäftigte mehrere Funktionen. Für die meisten dient sie der Existenzsicherung, doch viele Menschen suchen auch eine bedeutungsvolle Tätigkeit, die ihnen Begegnungen mit anderen ermöglicht. Wir können es uns nicht leisten, dass Arbeit kein persönliches oder materielles Weiterkommen mehr verspricht. Besonders bedenklich finde ich, wenn dieser Eindruck bereits bei einer beträchtlichen Zahl junger Menschen entsteht.“

Niels Reith
Vorstandsmitglied beim Demographie Netzwerk ddn
Geschäftsführer Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung

„In der fehlenden Perspektive für die eigenen beruflichen Möglichkeiten spiegeln sich die Erfahrungen der Menschen wider, die sie im Berufsalltag machen. Stehen ihnen Türen offen oder werden sie eher benachteiligt, und wie viele Angebote werden überhaupt gemacht?
Hinzu kommt ein allgemeiner Alterseffekt: Mit zunehmendem Alter wird der Zeithorizont, also wie viel Lebenszeit jemandem seiner Einschätzung nach noch bleibt, erst mal kleiner und man sieht deshalb auch weniger Möglichkeiten.
Deutschland ist zudem geprägt von normativen Karriereverläufen. Hier ist sicherlich von Arbeitgeberseite aus noch viel Nachholbedarf, denn sie könnten ihren älteren Beschäftigten sehr wohl Angebote machen oder bestehende Angebote besser kommunizieren.
In der politischen Diskussion sollte die Frage, welche Rolle Bildung in der zweiten Lebenshälfte spielt, eine größere Rolle spielen. Es braucht bessere Weiterbildungs- und Studienmöglichkeiten und auch neue Transfermöglichkeiten von einem Beruf in einen anderen.“

Prof. Dr. Ulrike Fasbender,
Universität Hohenheim
Fachliche Begleiterin der Studie

Arbeit ist Existenzsicherung

Für 83,2 % der befragten Beschäftigten bedeutet Arbeit entsprechend erst einmal Existenzsicherung. Auf Platz zwei der Motive folgt das Ausüben einer sinnvollen Tätigkeit, das bei 50,7 % eine wesentliche Rolle spielt, gefolgt vom Bedürfnis, Kontakt zu anderen Menschen zu haben mit 43,8 %. Medial sehr präsente Motive wie „Etwas zur Gesellschaft beitragen“ (34 %) oder „Spaß haben“ (26 %) rangieren mit deutlichem Abstand dahinter. Auch der Faktor Wissen spielt eine Rolle: Für 31,4 % gehört persönliche Weiterentwicklung zur Arbeit, und 23,6 % sehen ausdrücklich einen Sinn darin, „Wissen an die nächste Generation weiterzugeben“. In den Meinungen zur Bedeutung der Arbeit spiegeln sich stark die Perspektiven unterschiedlicher Lebensphasen und -situationen. So spielen für die Altersgruppen ab 50 Jahren verstärkt die Erfahrung von Akzeptanz und Wertschätzung sowie der Kontakt zu anderen Menschen eine Rolle. Tendenziell liegt hier ebenfalls ein kleiner Geschlechterunterschied, auch für Frauen sind beide Faktoren wichtiger.

„Über fast alle Gruppen der Gesellschaft hinweg wird deutlich, dass Arbeit meistens der Existenzsicherung dient. Dies unterstreicht nicht nur den wirtschaftlichen, sondern auch den gesellschaftlichen Wert von Arbeit. Sie dient als Vehikel der sozialen Mobilität! Vor diesem Hintergrund verdienen Arbeit, Vergütung und Arbeitsmodelle besondere Aufmerksamkeit, um der größtmöglichen Anzahl von Menschen die Möglichkeit zu bieten, einer existenzsichernden Beschäftigung nachzugehen.“

Niels Reith
Vorstandsmitglied beim Demographie Netzwerk ddn
Geschäftsführer Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung

„Erst mal die Existenz zu sichern, ist natürlich elementar für fast alle Menschen. Mit der Zeit bekommt die Arbeit aber noch andere Bedeutungen. Mit dem Alter werden soziale Motive zunehmend wichtiger, weil sich die Zukunftszeit verringert und sich Menschen damit eher auf das „Hier und Jetzt“ konzentrieren und das, was ihnen sozial und emotional wichtig ist. Akzeptiert und wertgeschätzt zu werden oder Kontakt zu anderen Menschen zu haben, sind solche sozialen Motive, aber auch das, was sie der Welt hinterlassen. Bedeutsam erscheint mir bei diesen Zahlen zudem, dass die persönliche Weiterentwicklung über alle Altersgruppen hinweg einen hohen Stellenwert hat. Davon, dass die Älteren daran kein Interesse mehr haben, kann also nicht die Rede sein.“

Prof. Dr. Ulrike Fasbender,
Universität Hohenheim
Fachliche Begleiterin der Studie

Mehrheit will früher in Rente gehen

Trotz des existenzsichernden Charakters der Arbeit sehnt sich eine Mehrheit nach einem frühen Renteneintritt. 54,2 % der abhängig Beschäftigten wollen mit 62 Jahren oder früher aus dem Berufsleben ausscheiden, hingegen wollen nur 10,7 % bis 67 oder länger arbeiten. Damit bestätigen sich die Ergebnisse einer gleichlautenden Befragung aus dem Vorjahr. 2021 wollten 53 % mit 62 Jahren oder früher in Rente gehen. 13,4 % waren bereit, bis 67 oder länger zu arbeiten. Eine deutliche Verschiebung der Perspektive gab es dabei in der Altersgruppe 30 bis 39 Jahre. Wollten 2021 noch 62,3 % bis zum 62. Lebensjahr in Rente gehen, waren es in diesem Jahr 73,5 %.  Die Studienmacher sehen hierin einen Hinweis auf eine mögliche Mehrfachbelastung dieser Altersgruppe in der Corona-Pandemie.

„Wir alle kennen die demografische Entwicklung: In diesem Jahrzehnt werden die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge aus dem Arbeitsleben scheiden. Die dadurch entstehenden Herausforderungen für den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme sind immens. Wir müssen alle Fachkräftepotenziale aktivieren. Umso mehr müssen uns diese Zahlen alarmieren, dass viele Menschen keine Perspektive darin sehen, im Alter zu arbeiten. Es ist auffällig, dass einige aktuelle Debatten anscheinend mit der Stimmung in der Gesellschaft nicht zusammenpassen. Aus der Umfrage wird deutlich, dass die Bereitschaft, über die Altersgrenze hinaus beruflich tätig zu sein, mit dem Alter steigt. Insbesondere erfahrene Fachkräfte sind häufiger motiviert, auch im Alter aktiv zu sein. Allerdings sollte man ganz genau hinschauen, wer weiterarbeiten möchte und wer muss.
Wir brauchen offene, ehrliche und vernetzte Diskussionen. Wir benötigen eine Grundsatzdebatte über die Zukunft der Arbeit, die über Digitalisierung oder New Work weit hinausreicht. Die Herausforderung für Unternehmen und Betriebe wird darin bestehen, auf individuelle Erwerbsbiographien und Lebensentwürfe einzugehen. Es benötigt passgenaue Angebote für die Beschäftigten.“

Niels Reith
Vorstandsmitglied beim Demographie Netzwerk ddn
Geschäftsführer Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung

„Der Wunsch nach frühem Ruhestand ist stark von der Lebensphase abhängig. Gerade für die Mittdreißiger ist das Leben häufig sehr stressig, und zwar privat zum Beispiel durch Kinder als auch im Beruf und die Karriereoptionen in dieser Phase. Corona hat diese Doppelbelastung sicherlich nochmals verstärkt.
Was der Ruhestand wirklich bedeutet, merkt man aber erst, wenn man kurz davorsteht. Vorher kann man sich eher die Vorteile vorstellen, etwa mehr Zeit für anderes zu haben, nicht aber den Verlust der Arbeit und von allem, was sie uns bedeutet, darunter zum Beispiel Wertschätzung und Akzeptanz oder Kontakt zu anderen Menschen. Mit der Arbeit ist zudem ein hohes Maß an Identität verbunden, die wir plötzlich loslassen müssen.“

Prof. Dr. Ulrike Fasbender,
Universität Hohenheim
Fachliche Begleiterin der Studie

Schlechte Absicherung im Alter

Auch unsichere wirtschaftliche Aussichten scheinen den Wunsch nach einem frühen Ruhestand nicht aufzuhalten. Auf die Frage nach der persönlichen finanziellen Absicherung im Ruhestand gaben 19,7 % an, diese sei „sehr schlecht“ und weitere 25,4 % „eher schlecht“. Zusammengenommen fühlen sich also 45,1 % der abhängig Beschäftigten unzureichend abgesichert. Ein knappes Viertel (23,1 %) war bei dieser Frage unentschieden, ein gutes Viertel (25,7 %) erwartet eine finanzielle Absicherung die „eher“ gut ist und gerade einmal 6,1 % sehen für sich die Absicherung als „sehr gut“ an.

Auch bei dieser Frage sind deutliche soziodemografische Ungleichheiten erkennbar. Schlecht abgesichert fühlen sich vor allem Menschen ohne Berufsabschluss (67,7 %), Arbeiter*innen (67 %) und die Jüngeren unter 30 Jahren (56,9 %). Auch eine Geschlechterdifferenz ist erkennbar. Während sich durchschnittlich 50,6 % der Frauen schlecht abgesichert fühlen, sind es bei den Männern nur 39,8 %.

„Die Älteren und Alten prägen das Bild unserer Gesellschaft schon heute, in Zukunft sogar noch mehr. Dass viele Menschen pessimistische Erwartungen haben und sich im Alter schlecht abgesichert fühlen, ist kein gutes Zeichen. Wir müssen unsere sozialen Sicherungssysteme zukunftsfest machen und an sich ständig ändernde Herausforderungen anpassen. Dies gelingt nur mit vorausschauender übergreifender Zusammenarbeit. Gleichzeitig muss der (Mehr-)Wert der Sozialsysteme für alle Menschen deutlich sein.“

Niels Reith
Vorstandsmitglied beim Demographie Netzwerk ddn
Geschäftsführer Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung

„Die Bedenken hinsichtlich der Absicherung im Alter sind nicht ganz zu Unrecht, denn prinzipiell hat sich das Verhältnis aus Personen, die in das Rentensystem einzahlen, und Personen, die daraus etwas erhalten, verändert.
Wenn staatliche Sicherungssysteme an ihre Grenzen kommen, wird die private Altersvorsorge sicherlich noch relevanter werden, gegebenenfalls nochmals verstärkt durch mediale Effekte. In jungen Jahren vernachlässigen Menschen tendenziell allerdings ihre private Altersvorsorge.
Zudem lässt sich auch hier wieder erkennen, dass Bildung und Einkommen eng miteinander verwoben sind, und auch der Gender-Pay-Gap wirkt sich auf die Absicherung im Alter aus.“

Prof. Dr. Ulrike Fasbender,
Universität Hohenheim
Fachliche Begleiterin der Studie

Die Umfrage

Für den Demographie-Index hat das Marktforschungsunternehmen Civey im Auftrag von ddn 2.502 Erwerbstätigte im Zeitraum vom 01.10.2022 bis 10.10.2022 im Rahmen einer Online-Umfrage befragt. Die Erhebung hat insgesamt vier Fragen mit zwölf sozioökonomischen Faktoren wie Alter, Bildung, berufliche Stellung, Familienstand etc. verknüpft.

Die Fragen zielten auf die Einschätzung der zukünftigen beruflichen Möglichkeiten, die Bedeutung der Arbeit sowie den gewünschten Renteneintritt und die Alterssicherung im Ruhestand.